Tag 24: Demonstrieren bis zum Anpfiff

Um halb elf vormittags ist der Praça Sete de Setembro noch ein unschuldiger Knotenpunkt im Zentrum von Belo Horizonte. Autos und Motorräder kreuzen ihn. Passanten sind auf dem Weg in die Boutiquen und Märkte der Umgebung. Auf der einen Ecke ist ein Fastfood-Laden, auf der nächsten eine Bankfiliale. Dazwischen steht eine Gruppe von vielleicht 100 Menschen. Sie schwenken Fahnen, auf denen „Abaixo a Copa feita de sangue operário“ steht („Nieder mit der WM, die aus dem Blut der Arbeiter gemacht wurde“) und „Movimento Feminino Popular“ („Feministische Volksbewegung“). Gegen einen Betonsockel sind die Porträts von Männern gelehnt, die während der Stadionbauten ums Leben gekommen sind. Über manche sind Stirnbänder mit aufgemalten Blutflecken gespannt. Sie sind mit mehreren Lagen Tesa verklebt. Offensichtlich wurden sie schon oft gebraucht. Die Sprecher reichen das Mikrophon vom einen zum anderen.

Drei Stunden später ist der Platz ein Aufmarschgebiet, auf dem sich 50 Demonstranten und viermal so viele Polizisten gegenüber stehen. Das, was dazwischen geschieht, ist ein Lehrstück darüber, wie sich der Protest gegen die Weltmeisterschaft seit dem vergangenen Jahr verwandelt hat.

Als im Juni 2013 die Demonstrationen von São Paulo aus in die anderen Großstädte Brasiliens schwappten, gingen in Belo Horizonte 50 000 Menschen auf die Straße. Am 26. Juni spielte hier Brasilien im Halbfinale des Confed-Cups gegen Uruguay. Die Demonstranten blockierten die Straßen, viele machten sich auf den Weg zum Stadion. Während drinnen die Seleção ihre Nachbarn besiegten, lieferten sich draußen Polizisten und Demonstranten heftige Kämpfe. Scheiben gingen zu Bruch, Autos wurden schrottreif geschlagen. Auch an dem Tag, an dem die Demonstranten auf dem Praça Sete de Setembro stehen, spielt Brasilien in Belo Horizonte. Achtelfinale gegen Chile. Es wäre der ideale Zeitpunkt für die Fortsetzung dessen, was vor einem Jahr begann. Nichts sieht danach aus, als könnte dies hier heute geschehen. Doch der Protest ist nicht verschwunden. Er hat nur sein Gesicht geändert. Er trägt heute unter anderem das von Cláudia Simões Santos, vom Leben und der Sonne gezeichnet und mit Edelstein besetzten Ohrringen verziert.

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Die kleine Frau mit den manikürten Fingernägeln, als habe sie sich nicht zu einer Revolution aufgemacht, sondern zu einem Rendezvous, steht am Rand der kleinen Gruppe mit dem Plakat der Feministinnen. Als sie an der Reihe ist, nimmt sie sich das Mikrophon und beginnt in Richtung der Polizisten zu schimpfen, die sich um die Ecke mit Schlagstöcken, Maschinengewehren und Pfefferspray bereithalten.

„Welch Schande, Euch hier zu sehen, wie Ihr Lehrer und Rentner unterdrückt, die Ihr als Fußabtreter des Staates dient. Ihr seid nichts mehr als das. Denn der eigene Staat befiehlt ihnen, der heute unglaubwürdig ist und uns schlägt, wenn wir ihn brauchen. Es sind die gleichen, die als Fußabtreter dienen, die diesen faschistischen Staat beschützen. Es ist mir peinlich, Lehrerin zu sein und für viele von denen unterschrieben zu haben, die heute hier sind und auf Befehl des mörderischen Staates diese Grenzen aufstellen. (…) Aber wir sind das Volk und wir werden nicht feige sein, wie sie feige sind. Wir sind hier und machen, was wir machen müssen: dem Gesetz des Staates nicht zu gehorchen, das uns nicht auf dem Platz will.“

Kaum jemand applaudiert, als sie nach zwei Minuten das Mikrophon weiter reicht, niemand kommt auf sie zu. Doch sie hat gesagt, was zu sagen war. Zufrieden stellt sie sich an den Rand. Auftrag erledigt. Es ist halb zwölf. Noch eineinhalb Stunden bis Spielbeginn. Vielleicht 50 Leute sind inzwischen hinzugekommen. Im Hintergrund spazieren gelb-grüne Trikots vorbei und blasen in ihre Tröten.

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Dass sich an diesem Tag so viel mehr ihrer Landsleute darum sorgen, ob sie rechtzeitig einen Platz vor einem Fernseher finden, als um das, was in ihrem Land gerade passiert, ist nichts, was sie verzweifeln ließe. Auch in ihrem Beruf hat sie es sich zum Ziel gesetzt, ein demokratisches Bewusstsein heranzuziehen. Und sie weiß, dass das nicht von heute auf morgen geht. Sie arbeitet als Geschichtslehrerin an einer öffentlichen Schule. „Ich bin überzeugt, dass ich politisches Denken in ein Klassenzimmer tragen und so meine Schüler verändern kann“, sagt sie. Dass das Geld, das diese WM verschlungen hat, in das brasilianische Volk hätte investiert werden müssen, wie sie es beschreibt, erlebt sie selbst jeden Tag. „Ich arbeite an einer Schule, die mehr oder weniger untergeht.“ Deshalb ist sie hier. Um sich und den anderen zu beweisen, dass sie sich das nicht gefallen lässt. Enttäuscht darüber, dass anders als vor einem Jahr so wenige mit ihr kämpfen wollen, ist sie nicht. Es wird ja weiter protestiert, doch bei weitem nicht mit der gleichen Wucht und Aufmerksamkeit. Nach dem Spiel der Engländer gegen Uruguay in São Paulo beispielsweise demonstrierten Menschen für einen kostenlosen Nahverkehr. Es folgten schwere Ausschreitungen. Auch in Rio de Janeiro halten die Proteste an. Nicht die Quantität sei entscheidend, sagt die Lehrerin. „Was wir wahrnehmen, ist, dass obwohl die Demonstrationen klein sind, sie in allen Bundesstaaten stattfinden. Es gibt keinen einzigen brasilianischen Bundesstaat mehr, der sich nicht gegen die WM auflehnt.“