Tag 11: Der Kampf im Cine Marrocos

Das „Cine Marrocos“ befindet sich in bester Lage, doch die Menschen, die hier ihr Zuhause gefunden haben, leben darin in ihrer eigenen Welt. Im Stadttheater gegenüber mit den mannshohen Statuen und Girlanden aus Beton läuft Bizets „Carmen“. Die Flachbildfernseher in den Schaufenstern der Elektronikmärkte um die Ecke zeigen die Spiele der WM. Weder das eine noch das andere können sich die 475 Familien in den drei Gebäuden leisten, die von der „Movimento Sem Teto de São Paulo“ (MSTS) besetzt worden sind. Wer hier untergekommen ist, ist schon froh, dass er nicht mehr „sem teto“ leben muss, ohne Dach. Ein Besuch im Theater, ein Flatscreen? Unvorstellbar. Weil unbezahlbar.

Entstanden ist die MSTS vor zwei Jahren. Ihre Gründung ist eine Reaktion auf die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens in den vergangenen zehn Jahren. Auf der einen Seite ist es dem Staat gelungen, zwischen 2003 und 2008 knapp 30 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht zu hieven. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt heute in relativem Wohlstand. Auf der anderen Seite steht immer noch einem Viertel weniger als 320 Reais im Monat zur Verfügung, das sind nur etwas mehr als hundert Euro. Durch die vielerorts gestiegenen Immobilienpreise, eine Folge auch der Weltmeisterschaft, können sich viele Menschen nicht einmal mehr eine Wohnung leisten. Sieben Millionen Wohnungen fehlen nach Angaben des MSTS derzeit und diejenigen, die darunter am meisten zu leiden haben, sind Familien mit niedrigstem Einkommen – oder gar keinem.

Laut Satzung hat es sich die MSTS deshalb zur Aufgabe gemacht, menschenwürdigen Wohnraum zu organisieren. Sie tut dies, indem sie Gebäude besetzt, die entweder dem Staat oder der Stadt gehören und sie nutzbar macht für Menschen, die sonst keine Perspektive hätten. Denn was dem Volk gehört, soll das Volk auch nutzen dürfen, sagen sie im MSTS. Im Moment sind es sieben. Wladimir Ribeiro Brito, ein 36-jähriger Mann mit Zahnspange und breitem Lachen, ist Leiter aller Gebäude. Er stammt aus Bahia und kam vor 17 Jahren in der Favela Heliópolis im Südteil São Paulos an. Als seine Miete dort von 500 auf 900 Reais stieg, er aber nur 700 Reais verdiente, konnte er sich seine Wohnung nicht mehr leisten.

Obwohl er anfangs selbst Vorbehalte gegenüber dem Leben in einem besetzten Haus hatte, zog er ein und stieg bald zum Chef auf. Nicht, weil er auf Macht aus war. Es ging und geht ihm um etwas anderes:

Während unseres Gesprächs steht Wladimir im alten Kinosaal des „Cine Marrocos“. Am 1. November 2013 brachen er und seine Kollegen die Türen auf. Seit den fünfziger Jahren fand in dem Kino ein Filmfestival statt. Bis in die neunziger Jahre war es eines der wichtigsten Lichtspielhäuser der Stadt. Doch weil sich in Brasilien das soziale und kulturelle Leben weitgehend in Shoppingmalls verzogen hat, der Sicherheit wie der komfortableren Parkmöglichkeiten wegen, hat das Kino seine Stellung verloren. Vor elf Jahren kaufte die Stadt es seinem Besitzer ab und wollte es in ein Kulturzentrum verwandeln. Doch das geschah nie.

Über 2000 Menschen leben mittlerweile in dem Kino und dem Geschäftsgebäude darüber. Die Einwanderer, Rentner, Arbeiter und Kinder verteilen sich über 13 Stockwerke. Jede Gruppe hat ihren eigenen Bereich: Afrikaner, Bolivianer, Homosexuelle, Familien. Sie haben es sich so gemütlich wie möglich gemacht in den ehemaligen Büros, mit Bildern an den Wänden, kleinen Sofas und Fernsehern. Alle eint der Wunsch, so bald wie möglich in eine richtige Wohnung oder gar in ein Haus zu ziehen. Einmal im Monat, jeweils am letzten Sonntag, treffen sie sich im großen Saal. Dann erklärt Wladimir allen Neuankömmlingen die Hausordnung, es wird über die Kosten für Reparaturen und Renovierungen beraten und am Ende sind es die Bewohner, die mehrheitlich die Entscheidungen treffen.

An die Vergangenheit erinnern nur noch die klassizistischen Lampen im Eingangsbereich, die Sitzpläne vor den Eingängen und der große Saal im hinteren Teil des Gebäudes. Sie sind die letzten Symbole dafür, dass es hier einmal um Zerstreuung und Ablenkung vom Alltag ging und nicht, wie heute, um den täglichen Kampf ums Überleben.

Die Stadtverwaltung und MSTS leben in einer Art unfreundlicher Koexistenz. Die Stadt lässt die Bewegung gewähren, MSTS spricht notgerungen mit der Politik. Beinahe jede Woche sitzt Wladimir drüben im Rathaus, keine zehn Gehminuten entfernt, und streitet mit der Verwaltung, manchmal auch so hitzig, dass er aus den Besprechungen geworfen wird. „Es ist verrückt“, sagt er. „Die meisten hier haben für Fernando Haddad gestimmt, den amtierenden Bürgermeister von São Paulo. Er gehört zur PT (Partido dos Trabalhadores, die Partei von Lula). Sie will die Partei der Arbeiter sein, aber sie tut nichts für uns.“

Für die Weltmeisterschaft habe die Stadt versucht, die Armut aus dem Zentrum zu verdrängen, erzählt er. Die Touristen sollten ein anderes Brasilien sehen als das, in dem die Bewohner des Kinos leben. Doch die ließen sich nicht vertreiben. Zwischen den Bannern des FIFA-Fanfests jenseits des Stadttheaters und denen des MSTS an der Außenwand des Kinos liegen keine fünfhundert Meter. Wladimir will, dass die Welt sieht, wie es Brasilien um die Ärmsten steht.

An seinen Gesten und seinem Slang merkt man ihm die Vergangenheit in der größten Favela der Stadt an. Er hat die Handschrift eines Zwölfjährigen. Gleichzeitig strahlt er nicht nur eine große Herzlichkeit aus, sondern auch die Klugheit eines Mannes, der seinen Ärger nicht in Aggression abgleiten lässt. Er ist hart, gegenüber sich selbst wie gegenüber seiner Umwelt, aber nie hartherzig. Und mit derselben Rigorosität, die er draußen an den Tag legt, agiert er auch im Inneren der Bewegung. Keine Drogen, jeder muss arbeiten gehen und wenn ein Mann seine Frau schlägt, versammelt er 15 Frauen, die ihn vor die Tür setzen:

Mit der Selbstermächtigung, wie sie bei MSTS zum Ausdruck kommt, kann Wladimir seine Vision von Zusammenhalt, Solidarität und Gemeinschaft verwirklichen, die vor den Türen des Kinos weitgehend verloren gegangen ist. Das Leben im Kino entspricht der Gesellschaft, in der er leben möchte, und wenn er dafür für den Rest seines Lebens ein Outlaw bleiben muss, soll es ihm recht sein. Schon mehrmals hat man ihm Unterstützung dafür angeboten, in ein politisches Amt zu kommen. Und dann? Dann säße er drüben im Rathaus, mit einem guten Gehalt und dem Gefühl, sich verkauft zu haben.

Und sollte eines Tages die Polizei vor der Tür stehen, um das Gebäude zu räumen, wird er sich mit aller Macht widersetzen. Er wird erst gehen, wenn der Staat für jede einzelne Familie eine menschenwürdige Unterkunft bereitstellen kann. Nur eines wird da, wo er das Sagen hat, nie passieren: dass er oder einer seiner Leute Gewalt anwendet, wie es im Moment vielerorts geschieht: