Abflug

Brasilien ist ein Land der Superlativen, und man kann das sehen, wohin man blickt. Es ist eines der größten Länder der Erde mit der größten zusammenhängenden Fläche Regenwald. Mit einem der größten Flüsse der Welt, an dem eines der größten Wasserkraftwerke gebaut wird. Ein Land mit größter ethnischer Vielfalt und den Reichsten wie den Ärmsten. Mit den größten Städten und den heißesten Tänzen, mit einem der höchsten Gewaltpotentiale, einigen der größten und miserabelsten Gefängnisse und einem der bewegtesten innerstädtischen Helikopter-Verkehrssysteme. Brasilien ist aber auch einer der größten Rohstofflieferanten auf dem Weltmarkt und eine der am schnellsten aufsteigenden Wirtschaftsmächte. Man sagt, es sei das Land mit den tropischsten Stränden, den schönsten Frauen, der sinnlichsten Leidenschaft und – das soll hier nicht fehlen – dem besten Fußball.

Als ich vor sieben Jahren in Brasilien ankam, kannte ich solche Superlative nur aus Büchern und Zeitungen. Doch in den Jahren, die ich dort verbracht habe, habe ich erlebt, wie Menschen von ihnen schier zerrieben werden. Im ersten Jahr habe ich in einer Favela von São Paulo gelebt, um in dem Sozialprojekt Associação Comunitária Monte Azul zu arbeiten. Ich habe Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Geigen- und Klavierunterricht gegeben, weil ich die Fähigkeit, Musik zu machen, an Menschen weitergeben wollte, die sich das normalerweise nicht leisten könnten. Im zweiten Jahr habe ich Musik und Sozialwissenschaft studiert, in sehr anderen Vierteln gelebt und Menschen aus einer sehr anderen Welt kennengelernt. Zum Schluss ging ich auf eine lange Reise und weil ich schon damals auf der Suche war nach den Geschichten, die das Land erzählen, habe ich bei Menschen geschlafen, mit ihnen gegessen und getanzt, und mir angehört, was sie über ihr Leben berichten. Ich habe dieses Land auf die persönlichste Weise kennengelernt – das ist mein Superlativ.

Für uns sind Werte wie Freiheit, ein funktionierendes Sozialsystem und eine Wohnung Selbstverständlichkeiten. Doch in Brasilien habe ich Menschen getroffen wie den Vater einer Freundin, der unschuldig im Gefängnis saß, zwei Herzinfarkte erlitt und jetzt arbeiten muss, weil er als arbeitsfähig gilt. Der Staat sagt ihm, dass er sich eine Krankenpension für ihn nicht leisten kann. Es ist derselbe Staat, der für die WM Stadien gebaut hat, die die Fifa nie gefordert hat. Wird er sich in den kommenden Wochen Fußballspiele ansehen, mit Freunden in der Bar, und sie genießen können?

„Mein Traum war immer, einen Mann zum Heiraten zu finden und mir die Haare machen zu lassen“, erzählte mir die Köchin Silvana. „Heute habe ich meinen Mann, meine Kinder, aber immer noch nicht meine Haare gemacht.“ Sie lachte dabei. Wird sie sich jemals ihr Haar machen lassen können? Sie glaubt es nicht, dafür hat sie kein Geld. Aber sie ist glücklich und dankbar mit ihrem Mann, den sieben Kindern und einem kleinen Häuschen in einer Favela in São Paulo. Denn sie selbst hat als Kind mit zwölf Geschwistern unter einer Plastikplane geschlafen und bereits mit sieben Jahren ihrer Mutter in einer Großküche geholfen. Wenn jemand von der Behörde kam, wurde sie im Suppentopf versteckt. Sie sei klein und dünn gewesen, das habe gepasst. Und wieder lachte sie, man sah ihre breite Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, sie nahm meinen Teller und gab mir einen großen Klacks Reis und Bohnen: „Du musst essen, mein Kind“.

Es sind diese berührenden Momente, die einen kurz vergessen lassen, dass Brasilien eines der zerrissensten Länder der Erde ist. Von einem aktuellen Beispiel hat mir vor kurzem ein Freund erzählt. Es spielt in der einst hochgefährlichen Favela Santa Marta in Rio de Janeiro, gelegen an und auf einem Hügel. Für die WM wurde sie befriedet, was bedeutet, dass die Polizei dort mit zum Teil rigorosesten Methoden für Ordnung gesorgt hat. Heute werden am unteren Teil Zimmer für 300 Euro an brasilianische und internationale Studenten sowie Neugierige vermietet. Es werden geführte Touren angeboten. Die gleiche Miete muss aber auch ein Lehrer zahlen, ein Bankangestellter oder ein Bäcker. Für sie entspricht diese Summe einem Monatsgehalt. Und die, die früher ganz oben auf dem Hügel lebten, dort, wo nur diejenigen hinzogen, die nichts hatten und die für die steil ansteigenden engen Gassen wenigstens mit einem traumhaften Ausblick belohnt wurden, die müssen jetzt gehen. Etwa 150 Familien sollen geräumt werden. Wofür, weiß keiner, nur, dass es schnell gehen muss. Es gibt Vermutungen, dass dort ein Luxushotel entstehen soll, um den wohlhabenden Urlaubern den Sonnenuntergang über Rio zu verschaffen. So, als seien sie selbst der Cristo Redentor.

Wo mit Superlativen gespielt wird, müssen sie gehalten werden, sonst fällt das Land. Und das stellt Brasilien gerade jetzt vor eine immense Herausforderung. Dass sich viele Brasilianer auf ihre Weise auf die in einer Woche beginnende WM vorbereiten, ist die Folge einer Überreizung. Sie wollen nicht mehr dem Staat dienen, damit der wirtschaftlich glänzen kann. Sie wollen vom Staat und der Welt gesehen werden, wirklich gesehen werden. Sie wollen, dass ihre Straßen ausgebaut, U-Bahnnetze erweitert und mehr Busse eingesetzt werden. Sie wollen, dass die Tickets bezahlbar bleiben und sie Löhne bekommen, die nicht nur das Nötigste an Miete und Essen ermöglichen, sondern ihre Arbeit tatsächlich würdigen. Auch meine ehemaligen Kommilitonen werden auf den Straßen protestieren und den Verkehr zum Erliegen bringen. „Genau das muss sein“, sagen sie, „nur so verstehen es der Staat und auch das Volk.”

Oder wird Brasilien doch noch von einer Euphorie erfasst, wie es viele erwarten oder zumindest erhoffen? Wir werden es herausfinden und all die spannenden und traurigen, bewegenden und amüsanten Geschichten dieses facettenreichen Landes erzählen. Wir wollen zuhören und das, was wir hören, weitergeben an die, die sich dafür interessieren. Doch jetzt: steigen wir erst einmal ins Flugzeug.