Tag 1: Zu Gast bei Francisca
Franziska

Es gibt zum Start einer solchen Reise natürlich nichts Naheliegenderes als vom Wetter zu erzählen. Also: Heute Morgen ging über São Paulo ein oktobergrauer Schauer nieder, bei Temperaturen von junigerechten knapp 20 Grad. Erwähnenswert ist aber nicht nur die angenehme Frische, die hier von einem solchen Regen ausgeht. Sondern auch, dass man dadurch in Schrittgeschwindigkeit zu einem Teil der brasilianischen Gesellschaft wird. Man läuft dafür einfach bei der morgendlichen Jogging-Runde gemeinsam mit anderen Paulistas auf dem Mittelstreifen einer achtspurigen Straße und zieht sich wie die anderen das Oberteil vom Körper. Der Brasilianer rennt gern oben ohne.

Wir sind angekommen in Brasilien. Der Jetlag hat seine Krallen von unseren Körpern abgezogen. Auf dem Frühstückstisch liegen Käsebrötchen aus Ei, Öl, Käse und Manjokmehl mit Namen Pão de Queijo. Mit denen kann sich ein europäischer Magen durchaus einen ganzen Tag lang beschäftigen. Und wir haben in Fran, bei der wir unser erstes Quartier aufgeschlagen haben, eine Frau kennengelernt, die sagt: „Ich liebe Brasilien. Aber lieber wäre es mir, mein Haus stünde in einem anderen Land.”

Als wir vor zwei Tagen bei ihr eingetroffen sind, stand sie am Tor ihres kleinen, neu gestrichenen Häuschens und empfing uns mit offenen Armen, einem roten Pulli mit aufgenähten Herzchen und ihrem strahlenden Lachen. „Oi queriiidos – hallo, ihr Liiiieben“. Bei ihr sind wir gelandet, weil Birte vor vier Jahren einen Monat lang bei ihr gelebt hat. „Natürlich“, hatte sie geantwortet, als wir sie gefragt hatten, ob wir bei ihr unser Lager aufschlagen könnten. „Kommt.”

Fran ist die Vitalität in Person, trotz ihrer 65 Jahre. Dieser Frau geht die Energie nicht aus, auch dann nicht, wenn sie erschöpft in den Stuhl sinkt, kurz über ihr schmerzendes Bein und den langen Tag klagt. Denn schon im nächsten Moment lacht sie und erzählt mit Hingabe von ihrem Leben. Man könnte meinen, Francisca de Oliveira Calegari ist eine für Brasilien gewöhnliche Frau höheren Alters. Ihre Oma stammt aus Baden-Baden, blond mit blauen Augen. Ihr Opa war Portugiese, ihr Vater hatte afrikanische und indianische Vorfahren. Vier Ethnien hat sie, die sich als Schwarze bezeichnet, in sich vereint und damit vier Mentalitäten und Kulturen. Ihr Berufsleben hat sie als Grundschullehrerin in den Peripherien verbracht. Sie hat die Kinder geliebt und versucht, sie zum Lernen zu bringen, ihnen eine Perspektive zu geben. Aber sie ist realistisch. Sie weiß, dass viele von ihnen die Schulbildung nicht als wichtig erachten. Viel wichtiger ist, dass sie ihren Eltern auf dem Feld helfen können. Einige von ihnen hat sie weitergebracht und ist bis heute mit ihnen befreundet. Sie weiß, dass sie einen guten Job gemacht hat.

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Seit fünfzehn Jahren ist Fran pensioniert und führt ein zufriedenes Leben, obwohl es ihr nicht immer gut mitgespielt hat. Von heute auf morgen hat ihr Mann sie vor 30 Jahren verlassen. Er ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Erklärung, ein Warum, und hat sie mit ihren zwei Söhnen einfach allein gelassen. Acht Jahre lang hat sie geweint, die Wochenenden daheim im Pyjama verbracht und sich immer wieder gefragt, was sie falsch gemacht hat. „Bin ich so dumm, dass ich nicht gemerkt habe, dass er mich nicht mehr will?“ Für einen kurzen Moment wird ihr Blick ernst und es bleibt still, bis sie weiter spricht, mit ihrem Arm ausholt, uns fordernd anblickt und auf Englisch sagt: „Come on!“

Tatsächlich ist Fran eine ganz und gar ungewöhnliche Frau. Sie gibt nie auf und sticht mit ihrer Energie sogar die Mittzwanzigjährigen aus. Sie liebt das Leben und lebt es in vollen Zügen, das kann ihr keiner nehmen. Reist durch die Welt, geht in Konzerte und nimmt an Gesangswettbewerben für Senioren teil. Erst kürzlich hat sie eine CD mit einem Gitarristen aufgenommen. „Das wäre einer für mich. Aber ich bin wählerisch geworden. Ich nehme nicht mehr jeden. Der war Alkoholiker und vor allem raucht er. Mädchen, das glaubst du nicht. Der stinkt wie ein Aschenbecher. Nee, das brauch ich nicht. Meine Freunde sagen, der will was von mir, aber, come on, wir sind Freunde, einfach Freunde!“

Lange haben wir uns gestern mit Fran über ihr Leben unterhalten und darüber, warum sie so traurig ist, wenn sie an Brasilien denkt. Das Problem ihres Landes sei nicht, dass es zu wenig Geld gibt. Sondern, dass ihre Landsleute den falschen politischen Führern folgen. Nichts wäre nach ihrer Meinung deshalb fataler für die Zukunft Brasiliens, als wenn die Seleção diese WM gewönne.

Mit ihr werden wir uns in den kommenden Tagen noch oft unterhalten. Am Dienstag beispielsweise werden wir sie zu einem Espiritismo-Gottesdienst begleiten. So heißt ihre Religion, die man sich vorstellen muss wie eine Mischung aus Katholizismus und Buddhismus. Ihre Grundlage ist die Bibel, aber der Glaube an Wiedergeburt und ein hohes Maß an Eigenverantwortung ist darin genauso verankert wie die Überzeugung, dass es Menschen gibt, die über besondere seherische Fähigkeiten verfügen. Mit Macumba hat das allerdings nichts zu tun. So heißt der Zauber, den man hier etwa auf Straßenkreuzungen sieht, wo Kerzen in der Mitte eines Kreisverkehrs einen Mann dazu verführen sollen, eine bestimmte Frau zu lieben. Der Espiritismo geht vielmehr davon aus, dass alles mit allem in Verbindung steht und nichts ohne Grund geschieht.

Macumba auf einer Kreuzung in Lapa

Und noch ein kurzer Blick in unseren Maschinenraum: Wir haben unsere Reisekasse jetzt mit den Ausgaben befüllt, wie wir sie für die bevorstehenden Wochen kalkulieren. Es sind Angaben, die auf Preisen beruhen, soweit wir sie im Moment abschätzen können. Wir werden das Budget immer wieder mit den tatsächlichen Ausgaben abgleichen, damit Ihr sehen könnt, was wie viel kostet und wofür wir das Geld ausgeben, das Ihr in unsere Reisekasse legt. Dazu gehört dann auch das Bier zur späten Nacht, mit dem wir kurz unseren Kopf durchspülen, bevor wir zu Bett gehen. So wie gestern Abend.

Es gibt zum Schluss natürlich nichts Naheliegenderes als davon zu berichten, dass wir unser erstes Bier ausgerechnet dort getrunken haben, wo es Erdinger und Schneider Weiße gibt und sich der Besitzer dafür rühmt, seine ganze Einrichtung vom Oktoberfest in München mitgebracht zu haben. Dass wir dort gelandet sind, an diesem Ort mit Seppl-Hut aus grauem Filz und deutschsprachigen Bierdeckeln, war genauso Zufall wie der Umstand, dass wir bei einer Frau übernachten, deren Wurzeln in Baden-Baden liegen. Denn so viel Birte über sie schon erfahren hatte: Das hatte auch sie noch nicht gewusst.

Fran würde jetzt sicher erwidern: „Nein, nein, meine lieben Freunde, es gibt keine Zufälle. Alles hängt mit allem zusammen.“ Und wer wären wir, Fran zu widersprechen, die in ihrem Leben schon so viel mehr gesehen und erlebt hat als wir drei Grünschnäbel?